Das ist für mich _der_ Beitrag aus der NJW seit langem. Eine Anmerkung eines Münchener Richters zur Entscheidung des OLG Jena vom 01.03.2016, Az. 2 OLG 101 Ss Rs 131/15 (Lebensakte oder vergleichbare Dokumente sind auszuhändigen, auch ohne Vortrag eines konkreten Fehlers, kein ständiges Bemühen um Übersendung):
“Anmerkung
„Darf ich die Akte sehen?” – „Warum?” – „Die könnte mein Alibi enthalten.” – „Haben Sie dafür Beweise?” – „Nein.” -„Dann gibt’sauch keine Akte.”-„Aha. Und nun?” – „Werden Sie verurteilt.” – „Warum?” – „Sie haben kein Alibi.”
Man kann sich den Amtsrichter in Suhl genau vorstellen: Hinter einem Turm von OWi-Akten sitzend, möchte er die läppische Bußgeldsache erledigen, und natürlich ist der Betroffene zu schnell gefahren, macht jetzt aber mit Hilfe einer emsigen Verteidigerin maximalen Stress, damit das Verfahren eingestellt werde. Als Richter möchte man diese Verteidigungstaktik nicht belohnen durch eine Verfahrenseinstellung, die ein Betroffener ohne Anwalt nie bekäme („Zwei-Klassen-Justiz”), andererseits will niemand wegen einer Ordnungswidrigkeit einen zweiten NSU-Prozess. Also muss ein zügiger Ausgang her („first exit out”), denn das Ergebnis wird schon stimmen, auch wenn der Weg dorthin nur Kopfsteinpflaster ist.
Indes: Den Anspruch auf ein faires Verfahren nach Art. 6 I EMRK hat jeder, sogar ein Raser. Wie der Betroffene hier vorgeführt wurde, liest sich wie aus dem Handbuch „Die herrlichsten Tricks des Rechtsstaats”: Schön ist bereits das Argument, Akteneinsicht sei nicht nötig, die Polizei habe ja versichert, dass die Messung gültig sei. Gesundes Vertrauen erleichtert die Wahrheitsfindung zwar enorm, mit derselben Logik kann man aber auch Angeklagte freisprechen, die erklären, ihr Verhalten sei in Ordnung gewesen. Wer nicht aufklärt, muss nur wissen, wem er vertraut, schließlich bekommt er von dem die Wahrheit.
Hier hat das AG Suhl versiert ein Kaninchen aus dem Zylinder gezaubert, das, man hat es kaum bemerkt, vorher hineingestopft wurde – der klassische Fehler der antizipierten Beweiswürdigung: Die Ermittlung der Schuld ist nicht erforderlich, weil sie schon feststeht. Wer die Aufklärungspflicht des § 244 II StPO (iVm § 71 I OWiG) so umsetzt, macht aus Art. 6 II EMRK eine Schuldvermutung. Ungeahnt flexibel zeigten sich auch die Verfolgungsbehörden: Nachdem die Polizei mitgeteilt hat, der Betroffene möge nach zwei Ablehnungen die Akte nicht mehr anfordern, hält ihm die GenStA vor, er habe die Akte nicht mehr angefordert. Die StA legt dem Bürger also zur Last, er habe eine Aufforderung der Polizei beachtet. Bislang kannte man das von den Staatsanwaltschaften anders, mehrheitsfähig dürfte die neue Linie nicht werden.
Weshalb der Betroffene hier derart in die Zwickmühle genommen wurde, ist nur schwer nachvollziehbar: Der Missbrauch prozessualer Rechte im Bußgeldverfahren wird ohnehin weitestgehend unterbunden, weil bei standardisierten Messverfahren eine nähere Aufklärung über die Messung nur geboten ist, wenn es konkrete Anhaltspunkte für Messfehler gibt. Das sind hohe Hürden: Ein Betroffener muss in der Akte suchen und belegbare Zweifel an der Messung finden. Findet er nichts, muss das Gericht nicht aufklären. Dem Betroffenen allerdings die Akte verweigern und ihn dann, weil er nichts aus der Akte präsentieren kann, verurteilen – das sind nicht mehr hohe Hürden, das ist die Einladung zum Stabhochsprung, allerdings ohne Stab. Erfreulich, dass das OLG Jena dies als unfair ansieht.
Für die Praxis hat der Beschluss weitreichende Auswirkungen: Die Verwaltungsbehörde sollte, spätestens aber das Gericht muss Einsicht in die Lebensakte des Blitzgeräts gewähren; alles, was die Schuld des Betroffenen nachweisen soll, ist diesem bekanntzugeben -eine Selbstverständlichkeit. Die Polizei muss also einwandfrei arbeiten, sie kann sich das nicht ersparen mit dem Hinweis, sie habe einwandfrei gearbeitet.
Grundrechte sind anstrengend, insbesondere wenn es die der anderen sind. Sie stehen aber in der Verfassung und -erst Verfahrensrechte sichern materielle Rechtspositionen.
Richter am AG Dr. Lorenz Leitmeier, München”
Quelle: NJW 20/2016, S. 1457 ff.
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