LG Mönchengladbach: Überholer gegen Linksabbieger: Volle Haftung

Das LG Mönchengladbach (Berufungskammer) hat mit Urteil vom 10.09.2019, Az. 5 S 65/18, eine Entscheidung des AG Erkelenz aufgehoben. Während das Amtsgericht nur 50 % Haftungsquote zusprach, hat die Kammer dem nach links Abbiegenden/wendenden Fahrzeug die alleinige Haftung auferlegt. Es handelt sich um eine klassische Unfallkonstellation; ebenso klassisch ist die volle Haftungsquote, die das LG annimmt.

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Nachfolgend der Volltext:

5 S 65/18
6 C 8/17

Amtsgericht Erkelenz

Verkündet am 10 09 2019

Landgericht Mönchengladbach

IM NAMEN DES VOLKES

Urteil

In dem Rechtsstreit

Klägers und Berufungsklägers,

Prozessbevollmächtigter: Rechtsanwalt Frese, Siemensstraße 12, 52525 Heinsberg,

gegen

A Versicherungs-AG, vertreten durch den Vorstand,

Beklagten und Berufungsbeklagten,

Prozessbevollmächtigter zu 1, 2:

hat das Landgericht – 5. Zivilkammer – Mönchengladbach

auf die mündliche Verhandlung vom 20.08.2019

durch den Vizepräsidenten des Landgerichts Koewius, den Richter am Landgericht Novara und die Richterin am Amtsgericht Damm-Zehetner

für Recht erkannt:

Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Amtsgerichts Erkelenz vom
29.11.2018 (Az. 6 C 8/17) unter Zurückweisung des weitergehenden Rechtsmittels
teilweise abgeändert und insgesamt wie folgt neu gefasst:

Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger 4.731,03
EUR nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen
Basiszinssatz seit dem 10.12.2016 zu zahlen und den Kläger von
Rechtsanwaltsvergütungsansprüchen in
Höhe von 492,54 EUR freizustellen.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Kosten des Rechtsstreits haben die Beklagten zu tragen.

Das Urteil ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.

G r ü n d e:

l.

Der Kläger begehrt im Rahmen der Berufung den weiteren Schadensersatz aus
einem Verkehrsunfall vom 31.10.2016 in Höhe von 2.496,51 EUR sowie die
Freistellung von vorgerichtlichen Rechtsanwaltsgebühren in Höhe von 157,79 ELlR.
Der unfall ereignete sich auf der Gerderather Landstraße in Erkelenz. Der Kläger
befuhr diese mit seinem Fahrzeug, einem BMW 520i mit dem amtlichen Kennzeichen
Vor ihm fuhr der Beklagte zu 1) mit seinem Fahrzeug, einem Nissan
Navara mit dem amtlichen Kennzeichen Das Fahrzeug des Beklagten
zu 1 ) ist bei der Beklagten zu 2) haftpflichtversichert.

Der Beklagte zu 1) verlangsamte seine Fahrt und lenkte sein Fahrzeug nach rechts
hin zum Standstreifen. Der Kläger, der davon ausging, dass der Beklagte zu 1) dort
anhalten wollte, beabsichtigte links am Fahrzeug des Beklagten vorbeizufahren. Als
sich das klägerische Fahrzeug bereits neben dem Fahrzeug des Beklagten zu 1)
befand, fuhr dieser nach links. Es kam zur Kollision der Fahrzeuge. Das Fahrzeug
des Klägers erlitt einen Totalschaden.

Wegen der weiteren tatsächlichen Feststellungen des Amtsgerichts zur Unfallstelle
und zur Schadenshöhe wird gemäß § 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO auf die Ausführungen in
dem angefochtenen Urteil Bezug genommen.

Mit anwaltlichem Schreiben vom 25.11.2016 forderte der Kläger die Beklagten
erfolglos unter Fristsetzung bis zum 09.12.2016 zur Zahlung des
Wiederbeschaffungswertes für sein Fahrzeug, eines Nutzungsausfalls für 14 Tage
sowie einer Unkostenpauschale auf.

Der Kläger hat behauptet , dass der Beklagte zu 1) plötzlich ohne vorherige
Ankündigung nach links gefahren sei, um zu wenden. Die Beklagten haben
behauptet, dass der Beklagte zu 1) zwar tatsächlich zunächst beabsichtigte, zu
wenden, hiervon aber Abstand genommen habe und stattdessen die
Linksabbiegespur haben benutzen wollen, um nach links abzubiegen. Hierzu habe er
den Fahrtrichtungsanzeiger nach links gesetzt. Er habe gerade in die
Linksabbiegerspur einfahren wollen, als der Kläger über eine Sperrfläche hinweg in
sein Fahrzeug hinein gefahren sei.

Das Amtsgericht hat den Kläger und den Beklagten zu 1) informatorisch angehört
sowie durch Einholung eines Sachverständigengutachtens Beweis erhoben.
Das Amtsgericht hat die Beklagten mit Urteil vom 29.11.2018 verurteilt, einen
Schadensersatz in Höhe von 2.365,52 EUR zu zahlen und den Kläger von
vorgerichtlichen Anwaltskosten in Höhe von 334,75 EUR freizustellen. Im Übrigen hat
es die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass beide
Unfallbeteiligte ein Verstoß gegen Straßenverkehrsvorschriften treffe und daher eine
Haftungsquote von jeweils 50% angemessen sei. Dem Beklagten zu 1) sei ein
Verstoß gegen § 9 Abs. 1 S.3 StVO vorzuwerfen, weil er bei seinem
Linksabbiegevorgang den rückwärtigen Verkehr nicht beachtet habe. Dem Kläger sei
ein Verstoß gegen § 5 Abs.3 Nr.l StVG vorzuwerfen, weil er bei unklarer
Verkehrslage überholt habe.

Am 20.12.2018 hat der Kläger gegen das Urteil des Amtsgerichts Erkelenz Berufung
eingelegt. Er rügt, dass das Amtsgericht ihm einen Verstoß gegen § 5 Abs.3 Nr.1
StVO angelastet habe. Es habe eine klare Verkehrslage dergestalt bestanden, dass
der Beklagte zu 1) sein Fahrzeug nach rechts gefahren habe und somit beabsichtigt
habe, rechts anzuhalten. Der dann folgende Unfall sei für ihn unvermeidbar
gewesen. Darüber hinaus rügt er hinsichtlich der Schadenshöhe, dass das
Amtsgericht eine Herabstufung bei der Höhe des Nutzungsausfalls wegen des Alters
seines Fahrzeugs vorgenommen habe. Zudem sei die Höhe der zugesprochenen
Auslagenpauschale nicht angemessen.

Der Kläger beantragt,

an ihn über die bereits ausgeurteilten 2.365,52 EUR hinaus
weitere 2.496,51 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5
Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz der EZB seit
dem IO. 12.2016 zu zahlen und
ihn über die bereits ausgeurteilten 334,75 EUR hinaus von
restlichen Rechtsanwaltsvergütungsansprüchen in Höhe von
157,79 EUR freizustellen.

Die Beklagten beantragen,

die Berufung zurückzuweisen.

Von einer weiteren Darstellung der tatsächlichen Feststellungen wird gemäß § 540
Abs. 2, 31 3a Abs. 1 S. 1 ZPO i.V.m. § 26 Nr. 8 ZPO abgesehen.

II.

Die zulässige Berufung ist überwiegend begründet.

Das mit der Berufung angegriffene Urteil beruht im Sinne der §§ 513 Abs. 1, 546
ZPO auf einer Verletzung des Rechts und die gemäß § 529 ZPO zugrunde zu
legenden Tatsachen rechtfertigen eine andere Entscheidung.

Der Kläger hat gegen die Beklagten einen Anspruch auf Zahlung von weiterem
Schadensersatz in Höhe von 2.365,51 EUR gemäß §§ 7 Abs. 1, 18 Abs. 1 StVG, im
Hinblick auf die Beklagte zu 2) in Verbindung mit § 115 Abs. 1 VVG.

Das Amtsgericht hat zunächst in zutreffender Weise festgestellt, dass es sich bei
dem Verkehrsunfall für keinen der Unfallbeteiligten um ein unabwendbares Ereignis
handelte.

Die nach § 17 Abs. 1, 2 StVG vorzunehmende Abwägung der Verkehrsverstöße führt
allerdings nach Ansicht der Kammer zu einer alleinigen Haftung der Beklagten, da
die Betriebsgefahr des klägerischen Fahrzeuges vollständig hinter dem
Verursachungs- und Verschuldensbeitrag des Beklagten zu 1) zurück tritt (vgl. OLG
Düsseldorf, Urteil vom 10. 11.2003 – I-1 U 28/02).

Der Beklagte zu 1) hat gegen die Rückschaupflicht des § 9 Abs.1 S.4 StVO
verstoßen. Insoweit wird auf die zutreffenden Ausführungen in der angefochtenen
Entscheidung Bezug genommen. Darüber hinaus spricht auch der Beweis des ersten
Anscheins für eine SorgfaItspflichtverletzung des Linksabbiegers, wenn es in
unmittelbarem örtlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem Linksabbiegen zu
einer Kollision mit einem links überholenden Fahrzeug kommt (vgl. u.a. OLG
Frankfurt, Urteil vom 28. August 2012 – 22 U 1 48/1 I -, Rn. 17, juris).

Dem gegenüber muss sich der Kläger nur die Betriebsgefahr seines Fahrzeugs
zurechnen lassen, die jedoch im Ergebnis hinter dem Verschulden des Beklagten zu
1) vollständig zurücktritt. Einen Verstoß gegen § 5 Abs.3 Nr.1 StVO muss er sich
angesichts der festgestellten Tatsachen entgegen der Ansicht des Amtsgerichts nicht
entgegen halten lassen.

Eine unklare Verkehrslage, die nach § 5 Abs. 3 Nr. ü StVO ein Überholen verbietet,
liegt dann vor, wenn nach allen Umständen mit ungefährdetem Überholen nicht
gerechnet werden darf. Sie ist auch dann gegeben, wenn sich nicht sicher beurteilen
lässt, was Vorausfahrende sogleich tun werden. Dies ist dann der Fall, wenn bei
einem vorausfahrenden oder stehenden Fahrzeug der linke Fahrtrichtungsanzeiger
betätigt wird und dies der nachfolgende Verkehrsteilnehmer erkennen konnte und
dem überholenden Fahrzeugführer noch ein angemessenes Reagieren – ohne
Gefahrenbremsung – möglich war (KG Berlin, Urteil vom 15. August 2005 – 12 U
41/05 -, Rn. 7, juris).

Einen solchen Sachverhalt hat das Amtsgericht jedoch gerade nicht festgestellt.
Nach den Feststellungen war es nicht davon überzeugt, dass der Beklagte zu 1) vor
dem Einschlagen nach links den linken Fahrtrichtungsanzeiger betätigt hat.
Alleine der Umstand, dass der Beklagte zu 1) die Geschwindigkeit verringert und
nach rechts gesteuert hat, begründet nach Ansicht der Kammer noch keine unklare
Verkehrslage, bei der das Überholen unzulässig ist (vgl. auch KG Berlin, Urteil vom
04.06.1987 – 12 U 4540/86 – in NJW-RR 1987, 1251). Würde man bereits die
theoretische Möglichkeit eines verkehrswidrigen Linksabbiegens als unklare
Verkehrslage einordnen, so wäre ein Überholen langsam fahrender Fahrzeuge in der
üblichen Fahrweise überhaupt nicht mehr möglich (OLG Düsseldorf, Urteil vom 04.
April 2017 – I-1 U 1 25/16 -, Rn. 35, juris; OLG Düsseldorf, Urteil vom 25. Mai 2009 –
I-1 U 1 41/08 -, juris).

Spricht mithin gegen den Beklagten zu 1) der Beweis des ersten Anscheins, die beim
Linksabbiegen erforderliche Sorgfalt nicht beachtet zu haben, während ein
unfallursächliches Verschulden des Klägers nicht festgestellt werden kann, so tritt die
nicht erhöhte Betriebsgefahr des Überholenden hinter dem Verschulden desjenigen,
der verkehrswidrig nach links abbiegt, vollständig zurück (vgl. KG Berlin, Urteil vom
04.06.1987 – 12 U 4540/86 – in NJW-RR 1987, 1251; KG Berlin, Urteil vom 15.
August 2005-12 U 41 /05 -, Rn. 9, juris).

Der Höhe nach kann der Kläger Schadensersatz in Höhe von 4.731,03 EUR und
damit in Höhe von weiteren 2.365,51 EUR verlangen.

Dem Kläger steht ein Wiederbeschaffungsaufwand in Höhe von 3.367,00 EUR zu
(3.700,00 ELIR abzgl. Restwert in Höhe von 333,00 EUR). Hinsichtlich des geltend
gemachten Nutzungsausfalls unterliegt die Entscheidung des Amtsgerichts,
angesichts des Alters des klägerischen Fahrzeuges von 15 Jahren eine
Herabstufung um zwei Stufen vorzunehmen keinem Rechtsfehler, entspricht vielmehr
der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (Urteil vom 23.112004, Az. VI ZR
357/03). Dem Kläger steht zudem ein Nutzungsausfall in Höhe von 700,00 EUR
(50,00 EUR x 14 Tage) und ein Anspruch auf Erstattung der Kosten für die
Gutachtenerstellung in Höhe von 639,03 EUR zu. Die allgemeine
Auslagenpauschale entspricht in Höhe von 25,00 EUR der ständigen
Rechtsprechung der Kammer.

Der Zinsanspruch beruht auf §§ 286, 288 BGB.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 92 Abs.2 Nr.1, 97 ZPO.
Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 10, 711, 713
ZP0, 26 Nr. 8 EGZPO.

Die Revision ist nicht zuzulassen. Die Rechtssache hat weder grundsätzliche
Bedeutung, noch erfordert die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer
einheitlichen Rechtsprechung die Zulassung, § 543 Abs. 2 ZPO.

Der Streitwert wird für die 1. Instanz auf 4.862,03 ELlR und für die 2. Instanz auf
2.496,51 EUR festgesetzt.

Koewius Novara Damm-Zehetner