AG Bergheim: Anspruch auf Daten der kompletten Messreihe

Mit einem fast “lehrbuchhaften” Beschluss hat das AG Bergheim (Beschluss vom 01.10.2021, Az. 48 Owi 794/12 [b], den Rhein-Erft-Kreis verpflichtet, den gesamten Datensatz der Messreihe zur Verfügung zu stellen. Das Gericht berücksichtigt hierbei nicht nur die Entscheidung des VerfGH Saarland, sondern auch die aktuellen Entscheidungen des BVerfG zum Akteneinsichtsrecht. Interessant ist auch der Aspekt, dass das Gericht auf die Waffengleichheit großen Wert legt.

Hier gibt es die Entscheidung zum Download, unten der Volltext.


48 OWi 794/21 [b]

Amtsgericht Bergheim

Beschluss

ln dem Verfahren

gegen

Verteidiger: Rechtsanwalt Frese, Heinsberg

wegen Verkehrsordnungswidrigkeit

hat das Amtsgericht Bergheim durch die Richterin am Amtsgericht Jakobs
am 01. Oktober 2021 beschlossen:

Der Landrat des Rhein-Erft-Kreises, Bußgeldstelle, wird im Wege der gerichtlichen
Entscheidung verpflichtet,

1.) dem Verteidiger Einsichtnahme in den gesamten digitalen Falldatensatz der
gesamten Messreihe, der der angegriffenen Geschwindigkeitsmessung vom
21.05.2021, Tatzeit 09:52, Tatort: 50259 Pulheim, 859, Abs. 10, km 0,4/ Frtg
Köln zu Grunde liegenden Messung, die zur Entschlüsselung der Daten
notwendigen Token-Datei samt Passwort und die Statistikdatei mit Case-List
zu gewähren.

2.) diese Daten auf einem geeigneten Medium zur Einsichtnahme zu Händen
des Verteidigers zur Verfügung zu stellen.

3.) Die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Betroffenen
trägt insoweit die Staatskasse.

Gründe:
1.) Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung nach§ 62 OWiG ist zulässig und
begründet.

2.) Der Verteidiger hat gemäß §§ 46 OWiG, 147 StPO ein Recht auf
Akteneinsicht, das sich auf alle Schriftstücke, Bild-, Video- und Tonaufnahmen
bezieht, die für den Betroffenen im konkreten Fall entlastend von Bedeutung
sein könnten. Dies bezieht sich jedenfalls auf Unterlagen, welche einen
sachlichen und zeitlichen Zusammenhang zur gegenständlichen Messung
haben, sofern die Verteidigung das Einsichtsgesuch rechtzeitig geltend
gemacht hat und das Gesuch mit der Absicht verfolgt, sich selbst Gewissheit
über die Messung zu verschaffen (so auch BVerfG, Beschluss vom
12.11.2020 – 2 BvR 1616/18). Die Verteidigung hat hier bereits mit Schriftsatz
vom 07.07.2021, bei der Verwaltung eingegangen am 09.07.2021, somit noch
vor Erlass eines Bußgeldbescheides, die Herausgabe der fraglichen
Unterlagen begehrt.

Dem steht auch nicht entgegen, dass der vollständige Messfilm nicht zu den
Akten genommen wurde, da der Vorwurf in tatsächlicher Hinsicht auf diesen
mit gestützt wird. Der Grundsatz des fairen Verfahrens und die theoretisch
bestehende Möglichkeit des Betroffenen die Grundsätze des standardisierten
Verfahrens zu erschüttern, gebietet es, dem Verteidiger die Messunterlagen
im gleichen Umfang, wie einem etwaigen gerichtlich bestellten
Sachverständigen zur Einsicht zur Verfügung zu stellen (so auch VGH
Saarland, Beschluss vom 27.04.2018, Lv 1/18).

Bedenken hinsichtlich des Datenschutzes unbeteiligter Dritter greifen bei einer
Herausgabe der Daten lediglich an den Verteidiger, als einem Organ der
Rechtspflege, und einem von diesem beauftragen Sachverständigen ebenfalls
nicht durch. Um die Erfolgsaussichten eines Einspruchs gegen den
Bußgeldbescheid zu überprüfen, ist es notwendig, dass die Verteidigung die
Bedienung und Aufstellung des Messgerätes nachvollziehen und überprüfen
kann. Die Verteidigung hat folgerichtig im Rahmen eines Bußgeldverfahrens
das Recht auf Akteneinsicht in alle Unterlagen, die auch dem
Sachverständigen zur Verfügung gestellt werden. Dies neben dem Grundsatz
des fairen Verfahrens auch aus der Stellung des Rechtsanwaltes als
unabhängigem Organ der Rechtspflege und dem Grundsatz der
Aktenvollständigkeit. Ohne Zurverfügungstellung dieser Unterlagen wäre der
Verteidigung eine Überprüfung eines etwaigen gerichtlichen
Sachverständigengutachtens nicht möglich.

Darüber hinaus kann nur auf diese Weise Waffengleichheit zwischen den
Prozessbeteiligten hergestellt werden, welche der Grundsatz des fairen
Verfahrens gebietet. (so auch AG Gera, Beschluss vom 07. November 2016 –
14 OWi 445/16 mit weiteren Nachweisen).