Beitrag vom 29.12.2011:
Das LG Aachen hat mit Urteil vom 27.12.2011, AZ. 5 S 168/11, eine anderslautende Entscheidung des AG Heinsberg aufgehoben. Der klagende PKW-Fahrer hatte nach Inanspruchnahme seiner Vollkaskoversicherung unter Anwendung des sog. “Quotenvorrechts” restlichen Schadensersatz von einem Motorradfahrer verlangt. Der Kläger war in eine Parklücke – allerdings nicht vollständig – eingeschert, um nach seiner Behauptung Gegenverkehr durchzulassen und sodann nach Setzen des Fahrtrichtungsanzeigers weiterzufahren. Von hinten näherte sich der beklagte Motorradfahrer und beim Losfahren kam es zur Kollision der beiden Fahrzeuge. Das Amtsgericht hatte der Klage des PKW-Fahrers weitgehend stattgegeben, obwohl es lediglich eine Haftung des Motorradfahrers von 30 % sah (das ist der Vorteil des Quotenvorrechts….).
Das LG Aachen hat allerdings die Klage im vollen Umfang abgewiesen. Der Anfahrende habe gem. § 10 Abs. 1 StVO eine Gefährdung der anderen Verkehrsteilnehmer auszuschließen. Ein Verschulden des überholenden Motorradfahrers sei nicht zu sehen. Weder der vom Kläger behauptete Gegenverkehr und gesetzte Blinker sei bewiesen. Auch der Umstand, dass der PKW nicht gänzlich in der Parklücke stand, sei nicht relevant. Die Betriebsgefahr des klägerischen Motorrads müsse hinter dem Verschulden des PKW-Fahrers zurückstehen.
Das LG bewegt sich damit auf einer Linie zu den sog. “Überholer-Linksabbieger-Unfällen”, die in aller Regel ähnlich enden, wenn der gesetzte Fahrtrichtungsanzeiger nicht bewiesen werden kann.
Ich will hoffen, dass die 2. Kammer des LG Aachen diese Rechtsprechung der 5. Kammer fortführen wird. Mir liegt ein Urteil des AG Geilenkirchen vor, mit dem der klagenden Überholerin Schadensersatz nur zu 66 % zugesprochen wurde. Der Sachverhalt ist beinahe identisch. Das AG Geilenkirchen hatte zur Begründung der Haftungsquote angeführt, die Klägerin habe sich nicht wie ein Idealfahrer verhalten. Aus den Umständen, insbesondere der im Fahrzeug sitzenden Fahrerin und der Position nicht ganz am Fahrbahnrand, hätte ein Idealfahrer auf ein baldiges Losfahren geschlossen. Das wird mit der obigen Entscheidung des LG Aachen nicht zu halten sein (es sei denn, beim LG Aachen macht wieder jede Kammer, was sie will – eine derzeit nicht untypische Erfahrung).
Hier das Urteil des LG Aachen:
Update 12.04.2012:
Bei Berufungen zum LG Aachen darf jetzt auch “Kammerroulette” betrieben werden. Seit 2012 entscheiden die Kammern im “Turnus”, d.h. die 5. Kammer ist nicht mehr ausschließlich für Berufungen aus Heinsberg zuständig.
Die 2. Kammer hatte über einen ähnlich gelagerten Fall wie oben in der Berufung zu entscheiden. Das erstinstanzliche AG Geilenkirchen hatte der überholenden Klägerin noch eine Mithaftung von 1/3 angerechnet, weil im zu überholenden Fahrzeug eine Person zu erkennen gewesen (nicht vorgetragen oder bewiesen) und Gegenverkehr entgegengekommen sei (bestritten und nicht bewiesen). Die 2. Kammer des LG Aachen hat diese Haftungsquote gehalten, wenngleich kammerintern wohl einige Diskussionen vorangegangen waren. Zwischen den Parteien wurde schließlich ein Vergleich geschlossen, weil das AG Geilenkirchen zu Unrecht einen Antrag auf Zahlung von Schmerzensgeld zurückgewiesen hatte.
Ich tippe darauf, dass die Zahl der Berufungen zunehmen wird, wenn sich die Kammern in einigen Sachen nicht grundlegend absprechen…..allerdings scheint dies an einem sehr starren Festhalten des einen oder anderen Kammervorsitzenden an seiner richterlichen Freiheit zu scheitern….
[…] Kein Schadensersatz beim unachtsamen Losfahren vom Fahrbahnrand […]